Das letzte Tabu: Du sollst keine Menschen malen!
Das letzte Tabu: Du sollst keine Menschen malen!

Liebe Leserin, lieber Leser,
Tabus haben es so an sich, dass sie für den Außenstehenden ganz zufällig und willkürlich eingesetzt scheinen. Für den Eingeweihten hingegen erschließt sich ihr geheimer Sinn, weil sie immer die heiligsten Gebote schützen – und damit den Zusammenhalt garantieren. So auch bei diesem, dem wohl allerletzten Tabu der Kunstgemeinde: Du sollst keine realistischen Porträts malen! Wir Jünger der Moderne haben diese Regel tief verinnerlicht. Und warum fürchten wir das zeitgenössische Konterfei auf Leinwand? Weil a: es sich um ein Auftragswerk handeln könnte (Verletzung des Autonomiegebots); b: die an die Fotografie abgetretenen Rechte auf treue Abbildung unbefugt genutzt werden (Verletzung des Abstraktionsgebots); c: der Titel verrät, was abgebildet ist (Verletzung des Gebots der offenen Deutung); d: die alte Kulturtechnik der direkten Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit geübt wird (Verletzung des Ironiegebots).
Deshalb wird jedes der obligatorischen Kanzlerporträts strategisch geplant und dann doch wütend diskutiert: Helmut Schmidt ließ sich in der DDR von Bernhard Heisig malen, was ein kluger Schachzug war, weil der es konnte und es außerdem politisch half. Helmut Kohl versuchte diesen Coup zu wiederholen, bestellte bei dem Heisig-Schüler Albrecht Gehse und wurde mit einem wirklich grauenhaften Bild bestraft. Gerhard Schröder ging vertrauensvoll zu seinem Freund Jörg Immendorff, der sich aber, Pech für Schröder, weigerte, den sicheren Pfad der Ironie zu verlassen. Da hängt er nun als Witzfigur.
Nun ist es wieder geschehen und jede Zeitung hat das Ungeheuerliche vermeldet! Der Leipziger Maler Michael Triegel hat im Auftrag des Regensburger Bischofs Papst Benedikt XVI. porträtiert. Es ist kein Meisterwerk wie von Velázquez, Raffael oder Tizian, dazu fehlen Kraft und Geheimnis, womöglich ja auch Genie. Aber es ist doch kein schlechtes Bild geworden, man wird es im Leipziger Museum der bildenden Künste (noch bis 6. Februar) eine ganze Weile länger betrachten und bedenken als jede Papstfotografie und manches sonst. Gelungen ist die alte, fleckig durchscheinende Haut auf den Wangen, gelungen ist der hängende Mundwinkel mit dem feuchten Zahn, der fast tückische Blick. Das sieht man aber nur von nahem. Aus der gebotenen Entfernung handelt es sich um eine konventionelle, eben repräsentativ unverfängliche Würdiger-Greis-sitzt-in-Lehnstuhl-Komposition. Alles in allem: trotz fieser Details keine Karikatur, trotz Prunkrahmen kein Lobpreisungsbild des Oberhirten. Im atheistischprotestantischen Leipzig eine Attraktion, für die Kritiker wieder einmal ein halb anziehendes, halb abstoßendes, viel beredetes Faszinosum: Ein Maler malt ein menschliches Wesen in führender Funktion!
Nun wird keiner behaupten, dass das Heil der zeitgenössischen Kunst im deutenden Naturstudium liegt. Aber ich bekenne es offen: Ich bin dafür, dass dieses letzte Tabu auch noch fällt. Maler sollen Menschen malen dürfen, wie sie sie sehen. Vielleicht müssen sie ja nur wieder ein bisschen üben.
Wie es jenseits von Papstporträts um das Verhältnis von Kunst und Kirche steht, lesen sie in unserer großen Titelgeschichte ab Seite 20.
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Offizielle Porträts in der Galerie im Kanzleramt: Helmut Schmidt von Bernhard Heisig, Helmut Kohl von Albrecht Gehse und Gerhard Schröder von Jörg Immendorff -

Halb gelungen: Michael Triegels Porträt von Papst Benedikt XVI.