Liebe Leserin, lieber Leser,

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Tim Sommer, Chefredakteur

wenn dieses Heft erscheint, sollte eigentlich der Abriss des Palastes der Republik auf Hochtouren laufen. Aber so sicher kann man das auch nicht sagen. Wer weiß schon, was noch dazwischen gekommen sein könnte: Womöglich haben sich ja mitten im Winter DDR-Nostalgiker zusammen mit Kunst- Avantgardisten an die Türen des realsozialistischen Multifunktionsgehäuses gekettet und mussten von der Polizei unter dem Gejohle von Preußenschloss-Romantikern abtransportiert werden.

Das Gezerre um den Abriss des Palastes der Republik und den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses dauert schon seit 1990. Es ist ein Lehrstück darüber, wie wenig wir mit unseren Städten anzufangen wissen. Absurd genug: Es fehlt an Visionen und gleichzeitig am Geld, sie umzusetzen. Die Leere ist allgemein. Insofern wird die Rasenfläche, die nun vorerst über den kiesverfüllten Kellern des Palastes wachsen soll, zum Denkmal für die städtebauliche Sinnkrise im Zentrum Berlins, gleich vis-ä-vis der Museumsinsel.

Schon Erich Honeckers Palast hatte die Bedeutungslücke nicht füllen können, die Walter Ulbrichts Schlosssprengung hinterlassen hatte. Statt eines riesenhaften Staatssymbols wie ursprünglich geplant, geriet der braun verspiegelte Klotz von 1976 zur Parlamentsattrappe mit angeschlossener Bowlingbahn. Immerhin: Die Restaurants, die Sauna, das Theater lockten das Volk auch abends ins Zentrum der Stadt. Der Parlamentssaal verlor seine Funktion mit der Wiedervereinigung, das Gebäude erwies sich als asbestverseucht und musste bis auf das Skelett gesäubert werden. Spätestens damals, Anfang der neunziger Jahre, hätte eine offene und unsentimentale Bedarfsanalyse stattfinden müssen: Was fehlt Berlin an dieser Stelle, wo Platz ist für ein ganzes neues Viertel? Wohnungen vielleicht? Eine Pop-Arena? Noch ein Museum?

Statt dessen wurde - ohne die Finanzierung zu klären - der Wiederaufbau des alten Preußenschlosses vereinbahrt, als leere Würdeform, als vergangenheitsseliger Platzhalter für fehlende Ideen. Das so genannte „Humboldt-Forum“, das mit Bibliothek und außereuropäischen Sammlungen, quer subventioniert durch integrierte Restaurants und Geschäfte, nun den Kasten füllen soll, hätte sich selbst eine ganz andere Form gesucht. Eine barocke Schlossanlage mit Ehrenhof muss diesen Nutzungen erst mühsam gefügig gemacht werden.

Der abgetakelte Volkspalast hingegen hatte ein unerwartet grandioses Finale. In steter Steigerung hat sich die offene Struktur in den letzten Monaten vor dem Abriss als perfekte Improvisationsbühne für die Berliner Kunstszene erwiesen. Die Schau „Fraktale IV“ (art 12/2005) war schon ein Höhepunkt im Berliner Kunstherbst. Und die Schau „36x27x10“, nur von Weihnachten bis Silvester gezeigt, wurde von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sogar als „Ausstellungswunder von Berlin“ gefeiert: Die lokale Kunstszene, von den Berliner Museen planvoll ignoriert, hatte in Selbstorganisation ad hoc eine Schau zusammengestellt, um die sich schon der Namen wegen weltweit die Ausstellungshäuser reißen würden: Thomas Scheibitz, Franz Ackermann, John Bock, Olaf Nicolai, Eberhard Havekost, Olafur Eliasson, Rirkrit Tiravanija … Hier zeigte sich, was Berlin viel dringender braucht als abgeschmackten Fassadenzauber: ein Experimentierfeld, eine Bühne für die Kunstzene der Stadt.