Die neue Mittelklasse und die Kunst
Die neue Mittelklasse und die Kunst
TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR
-

In Lothar Baumgartens Installation »Feuilleton Klimax« im Hamburger Bahnhof: Andreas Reckwitz und Wolfgang Ullrich (hinten) -

Fast perfekte Aktion des »Zentrums für Politische Schönheit «: Mahnmalduplikat vor Björn Höckes Wohnhaus im Eichsfeld
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
zwei Bücher haben mich in den letzten Wochen elektrisiert, auch wenn sie nur am Rande mit Kunst zu tun haben. Andreas Reckwitz, Professor in Frankfurt/Oder hat mit Gesellschaft der Singularitäten eine Theorie unserer Zeit vorgelegt, die es in sich hat: Durch die Bildungsrevolution sei eine neue Mittelklasse entstanden. Das Drittel der Gesellschaft mit Hochschulabschluss regiert das Land und setzt mit kosmopolitischen Ansichten und seinem »kuratierten Leben« die Maßstäbe für den Rest aus abgehängter alter Mittelklasse und Unterschicht. Unser Kolumnist Wolfgang Ullrich hat parallel sein neues Buch Wahre Meisterwerte veröffentlicht, in dem er analysiert, wie sich die gebildete Mittelklasse durch Werte statt durch Tugenden definiert – Werte, die sich nicht jeder leisten kann.
Anlass für uns, die beiden Denker zu einem Gespräch einzuladen, um ihre Theorien auf die Kunst anzuwenden. Dabei kam die Rede auch auf das »Zentrum für Politische Schönheit «, die Berliner Künstlergruppe, die ihre provokativen Aktionen zu Flüchtlingen oder gegen die Rüstungsindustrie mit Vorliebe über Spenden im Internet finanziert. Perfekte Kunst für die neue Mittelklasse – weil sie durch die Unterstützung quasi Teil der Aktion werden und sich so die dort vermittelten Werte aneignen kann.
Noch während wir das Gespräch zum Druck redigierten, holte das »ZPS« zu einem neuen Schlag aus und setzte dem AfDHetzer Björn Höcke eine Mini-Version des Berliner Holocaust-Mahnmals vor sein kleines thüringisches Obersalzberg. Kurz habe ich diesmal tatsächlich gezuckt, ob ich mich beteiligen sollte, so gut fand ich die Idee. Aber irgendwie kriegt es das »ZPS« eben nicht hin, mal eine Aktion wirklich cool durchzuziehen. Blöcke errichten, Bilder veröffentlichen und dazu einfach schweigen, das hätte völlig genügt, mit der Sache Kunstgeschichte zu schreiben und gleichzeitig die rechte Szene bis aufs Blut zu reizen. Warum also die Überwachungsaktion für Höcke und seine Familie und das ganze propagandistische Tamtam herum?
Dass AfD und allgemeiner Rechtsruck eine Begleiterscheinung der neuen Gesellschaftsordnung qua Bildung sind, hat unser Gespräch mit den beiden Denkern (ab Seite 68) ganz deutlich gemacht. Für Künstler und Museen gibt es viel zu tun – beim Spalten und beim Versöhnen.
PS: Wolfgang Ullrich veröffentlicht in diesem Heft schon sein 70. Bildseminar. Wie immer lehrreich, unterhaltsam – und auch überraschend: Diesmal geht es um … den Schneemann!