LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,

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Die verschlungenen Wege des tückischen Dada-Gens

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de

vor 100 Jahren gründeten eine Handvoll bitterarmer Exilanten das »Cabaret Voltaire«, das Labor für den höheren Unsinn, den Inkubator für die Weisheit des Quatschs. Schon nach ein paar Monaten war der Spuk in der Zürcher Spiegelgasse vorbei, und die Gruppe zerstob in alle Winde. Es existieren kaum Fotos und Dokumente von diesem Urknall der Kreativität kurz hinter den Frontlinien des Ersten Weltkriegs, in dem alle Werte zertrümmert wurden, für die das stolze 19. Jahrhundert gestanden hatte. Aber Kraft erkennt man bekanntlich an ihrer Wirkung. Dada hat die hehre, heile Welt der Kunst um ein tückisches Gen bereichert, das ihr Wesen von Grund auf verändert hat. Manchmal ist es schwer nachzuweisen, gelegentlich wandert es in angrenzende Bereiche, immer wieder aber bricht es seitdem dominant hervor. Dort, wo es wirkt, immunisiert es die Kunst zuverlässig gegen das süße Gift der Dienstbarkeit für Macht, Markt und Muße.

Der Bogen spannt sich von den Lautgedichten Hugo Balls, die das chauvinistische Geplärr der Kaiserzeit verulkten, bis zu den Punk-Gebeten von Pussy Riot, die die Allianz von Kunst und Kirche im Putin-Russland entlarvten. Die wichtigsten Zwischenstationen: der Surrealismus, der die Kunst für das Unbewusste öffnete. Fluxus, Happening und Performance mit ihren flüchtigen, unverwertbaren Aktionen. Punk als letztes großes Aufbäumen gegen den globalisierten Utilitarismus.

Okay, wir geben es ja zu: Wenn unsere Titelzeile »DADA hat gesiegt!« die ganze Wahrheit wäre, dann würden wir jetzt in einer besseren und lustigeren Welt leben. Dennoch haben wir versucht, mit diesem Heft der kichernden Urgewalt des Nonsens auf die Spur zu kommen. Sie ärgern sich über die vielen Anzeigen in der Strecke? Die sind eine Hommage aktueller Künstler an den guten alten OBERDADA coMERZ. Danke, rettender Unsinn, für diese Lebenszeichen!

  • Der unsterbliche Dada in seiner vielseitigen Gestalt: Salvador Dalí, Otto Muehl und Günter Brus, Joseph Beuys, Johnny Rotten, Christoph Schlingensief, Pussy Riot

PS: Unser Cover entwarf die Grafikerin Chris Campe. Der Klapper auf Seite 51 ist von Erik Spiekermann. Sie haben gleich zwei gemeinsame Hobbys: Holzbuchstaben – und Witze über ART …