Mehr als eine Resterampe, weniger als eine Sammlung

Mehr als eine Resterampe, weniger als eine Sammlung

TIM SOMMER, CHEFREDAKTEUR chefredaktion@art-magazin.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

der deutsch-schweizer Handschlag zum Gurlitt-Erbe lässt alle gut aussehen: Kulturstaatsministerin Monika Grütters hat sich als Troubleshooterin bewährt, die mit der goldrichtigen Mischung aus Pragmatismus und historischem Bewusstsein dem Kunstmuseum Bern erst ermöglicht hat, sein ebenso unerwartetes wie schwieriges Erbe (siehe Bericht auf Seite 134) überhaupt anzutreten. Deutschland stellt sich der Verantwortung – und übernimmt die Kosten für Forschung und juristische Klärung zu allen Bildern mit unklarer Provenienz und/oder Rückgabeforderung. Den Bernern hätte man es nicht verdenken können, das kontaminierte Konvolut rundweg auszuschlagen. Aber das Museum hat mit Matthias Frehner als Direktor und Christoph Schäublin als Stiftungsratspräsident ein Führungsduo, dass mit bewundernswerter Nüchternheit abgewogen und entschieden hat, die Sammlung seines Hauses zu mehren, ohne es mit Risiken für seinen Ruf oder seine Finanzen zu belasten. Eine gute Lösung, die bald zu noch mehr Klarheit führen wird. Die Berner haben die beiden Konvolute des Gurlitt-Nachlasses, den Schwabinger und den Salzburger Fund, ins Netz gestellt. Es ist zunächst nur eine formlose Liste mit provisorischen Abbildungen und aktuellen Rechercheständen, die jeder per E-Mail ergänzen und kommentieren kann. So bekommt die deutsche »Task-Force« endlich Schützenhilfe durch Schwarmwissen, das die Herkunft vieler Werke vermutlich recht schnell ausleuchten wird. Auch wird durch die Auflistung des Disparaten so mancher Mythos, der um den »Nazischatz« der Gurlitts wucherte, gründlich relativiert. Sicher, was wir da sehen, ist mehr als die Resterampe eines Kunsthändlers: Gerade unter den wenigen Gemälden sind einige Entdeckungen zu machen, und der frische Zustand einiger Farbgrafiken wird gepriesen. Aber es ist auch keine erlesene Sammlung von Hauptwerken ans Licht gekommen, wegen der man die Kunstgeschichte umschreiben müsste. Nur wenige Bilder hätten eigentlich die Chance, in die Schauräume eines Museums aufzusteigen. Also aus den Schubladen in Gurlitts Wohnung ins Dunkel des Museumsdepots? Mit dem erworbenen Promi-Bonus wird das nicht passieren: Auch aus mittelmäßigen Blättern werden so Großattraktionen. Skandal sei Dank!

  • Mut zum Gurlitt-Erbe: Stiftungsratspräsident Christoph Schäublin und Direktor Matthias Frehner vom Kunstmuseum Bern
  • Schon eine Ikone des Konvoluts: Wilhelm Lachnits Blatt »Mädchen am Tisch«
  • Alles im PDF-Format: Das Kunstmuseum zeigt die Werke auf seiner Webseite

PS : Für art war 2014 ein aufregendes und erfolgreiches Jahr. Ich danke für Ihre zahlreichen Glückwünsche zu unserem Jubiläum und wünsche Ihnen ein schönes Weihnachstfest!