Der Künstler des Jahres: Ai Weiwei!
Der Künstler des Jahres: Ai Weiwei!
Tim Sommer, Chefredakteur
Liebe Leserin, lieber Leser,
das Kunstjahr 2011, unsere Kritikerumfrage ab Seite 82 zeigt es, war im Grunde kein besonderes: Tops und Flops, Aufstiege und Abstürze, Neuentdeckungen – faszinierend und kontrovers wie immer, aber eben doch Routine im großen Welttheater der Kunst. Wäre da nicht der Chinese Ai Weiwei, dessen Schicksal und Handeln in den letzten Monaten uns vor Augen führen, was ein Künstler sein kann, der aus seiner Rolle als Bildlieferant und Unterhalter für die höheren Kreise heraustritt und zur politischen Figur wird.
Am 3. April wurde Ai verschleppt, ohne Begründung, an einen unbekannten Ort. Nach 81 Tagen wurde er gegen Kaution und unter strengen Auflagen freigelassen. Steuerhinterziehung wird ihm vorgeworfen, aber die chinesischen Behörden machen sich wenig Mühe, den wahren Grund der Gängelung zu bemänteln: „Provokante Menschen wie Ai Weiwei“, so ein Sprecher des Pekinger Außenministeriums, „muss man im Zaum halten.“ Die weltweite Solidarität mit Ai war beispiellos: Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, politische Einsprüche. Viel wichtiger als diese internationalen Proteste – und weit bedrohlicher für das Teflonregime in Peking – ist die Volksbewegung, die Ai in China selbst ausgelöst hat. Als bekannt wurde, dass der Künstler umgerechnet 1,8 Millionen Euro angebliche Steuerschuld nachzahlen muss, haben zehntausende Landsleute gespendet, oft kleine, vom Munde abgesparte Beträge. Viele scheuten sich nicht, zu Papierfliegern gefaltete Geldscheine über das von Überwachungskameras beäugte Tor von Ais Atelier zu werfen. Das ist eine Kulturrevolution mit umgekehrten Vorzeichen: Das Opfer Ai Weiwei wird zur Symbolfigur der Freiheit, indem es sein Schicksal im Internet teilt. Es gibt, so Ai im Interview mit dem „Spiegel“, eine „tödliche Waffe gegen eine totalitäre Gesellschaft: Offenheit.“ Dieser Mut macht Ai zum Künstler des Jahres. Er sagt: „Das Leben ist Kunst. Kunst ist das Leben. Ich trenne das nicht. Ich empfinde genausoviel Freude wie Wut.“
-
-
-
-
-

Formen des Protestes: Ai nackt auf einem undatierten Foto, eine Demonstration in Hongkong während der Inhaftierung, Ai auf dem Weg ins Steuerbüro, das Tor zu seinem Studio, über das Papierfliegerspenden flogen – der Überwachung zum Trotz