Wilde Jahre zwischen Boom und Krise

Wilde Jahre zwischen Boom und Krise

Tim Sommer, Chefredakteur chefredaktion@art-magazin.de

Liebe Leserin, lieber Leser,

wie futuristisch hatten wir uns irgendwann einmal die Welt im Jahr 2000 vorgestellt – und wie seltsam altmodisch, nett und unbeschwert erscheint uns das „Millenium“ gerade zehn Jahre danach. War der Klimawandel damals schon ein Thema? Hätten wir uns vorstellen können, dass unsere Freiheit mal am Hindukusch verteidigt würde? Hätten wir geahnt, dass Einfamilienhäuser in Amerika das Weltfinanzsystem sprengen würden? Hätten wir uns träumen lassen, wie Internet und Mobiltelefone unser Leben verändern würden, dass sich die Grenzen von privat und öffentlich, Arbeit und Freizeit auflösen?

Auch für die Kunst war es ein wildes Jahrzehnt zwischen Boom und Krise, geprägt von zwei Faktoren, die wiederum viel miteinander zu tun haben: Geld und Globalisierung. Nie zuvor sind vergleichbare Summen in Bilder investiert worden. Die Auktionshäuser entdeckten das Geschäft mit der zeitgenössischen Kunst, und die Galeristen lernten mitzubieten, um den Marktpreis ihrer Künstler zu halten. Damien Hirst veranstaltete gleich selbst eine Auktion und kaufte: Hirst. Postsowjetische Oligarchen spielten plötzlich mit, in den Arabischen Emiraten träumte man vom Louvre am Golf, und Leipzig, eben noch Kunstmarkt- Diaspora, wurde zum Weltleinwandlieferanten. Kuratoren hatten sich schon vorher bemüht, Afrika, Asien und Lateinamerika in den Kunstbetrieb zu integrieren und mussten im letzten Jahrzehnt lernen, wie harmlos ihre wohlmeinenden Versuche gegen die schiere Wucht des Marktes wirken, der eine Länderszene nach der anderen auf die Bühne stellte. Inzwischen hat im komplett vernetzten, globalisierten Kunstbetrieb keiner mehr den Überblick über all die Biennalen und Kunstmessen weltweit, und doch meint jeder besser Bescheid zu wissen als je zuvor.

In diesem Heft wagen (ab Seite 62) acht Experten einen visionären Blick in die Zukunft von Städtebau und Design, Kunst und Markt, Museum und Kunstkritik. Nur eins ist dabei sicher: Nichts altert schneller als die Utopie.

  • Die Utopien von gestern sind die Ruinen von heute: Der niederländische Pavillon der Architekten MVRDV für die Expo 2000 in Hannover – damals und jetzt