Liebe Leserin, lieber Leser, 

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Tim Sommer, Chefredakteur

stellen Sie sich vor: Das Bauhaus in Dessau rottet mit eingeschlagenen Scheiben und bröckelnden Mauem dahin und die Kommune weigert sich, auch nur die notdürftigsten Reparaturen zu bezahlen. Oder die Weißenhofsiedlung in Stuttgart stünde vor dem Abriss, weil ein Kaufhaus einen Parkplatz braucht. Das Narkofim-Gebäude in Moskau ist von vergleichbarem

Rang: Ein Spitzenwerk der Klassischen Modeme, dazu ein Stück Ideologiegeschichte des 20. Jahrhunderts. 1928 bis 1930 hatten Moisei Ginzburg und lgnati Milinis den Komplex am Nowinski-Boulevard errichtet, als ein .Kommunehaus' mit kleinen, höchst intelligent geschachtelten Wohnzellen für das vergesellschaftete Individuum, ergänzt durch Gemeinschaftsküchen und eine Kantine. Auf dem Dach gab es eine Sonnenterrasse mit herrschaftlichem Blick über die Moskwa. Eine Schule und ein Kindergarten sollten auch zu dem Komplex für 50 Familien gehören. Eine schnittige .Wohnmaschine• war das Apartmenthaus für das sowjetische Finanzministerium, noch bevor der Begriff erfunden wurde. überhaupt ist ungeklärt, ob Le Corbusier sich nicht vielleicht hier für seinen ungleich bekannteren Entwurf der .Unite d'Habitation• in Marseille bedient hat.

Das Narkofim-Gebäude ist seit Jahren in einem desolaten Zustand. Noch harren einige Familien hier aus. Wenn die letzten Bewohner gehen, könnten die Bagger anrücken. Das Grundstück in bester Lage ist Abermillionen wert, für eine Sanierung des kommunistischen Utopias fehlen in der Boom-Town Moskau die Investoren.

Die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde anhand der westeuropäischen und amerikanischen Architektur geschrieben. Nur mühsam erkämpft sich das lange Ausgeblendete jetzt die gebührende Aufmerksamkeit. Für viele Moskauer Bauten aus den Jahren zwischen Revolution und stalinistischem Terror droht die Rehabilitierung zu spät zu kommen.

Zum Start unserer fünfteiligen Serie über die Kunst der russischen Revolution ist art-Autor Gerhard Mack

nach Moskau gereist, um zu erkunden, was von der Architektur des russischen Konstruktivismus geblieben ist (siehe Seite 12). Seine Reportage zeigt erschütternde Zustände, aber auch, wie sich Kräfte formieren, um die großartigen Bauten von Konstantin Melnikow, den Wesnin­ Brüdem oder Moisei Ginzburg doch noch zu retten. Im April 2006 soll nun endlich ein großer internationaler Kongress die russische Öffentlichkeit aufrütteln und den Wert des Erbes deutlich machen. Denn auch hier istwie meist -Ignoranz die größte Gefahr für die Kunst. Das Narkofim-Gebäude ist derzeit nur als ,lokales Denkmal" anerkannt. Die niedrigste Stufe in Russland. 

Eine „Wohnmaschine“, schnittig wie ein Ozeandampfer: Das Narkofim-Haus von Moisei Ginzburg und Ignati Milinis aus den späten zwanziger Jahren (links eine historische Aufnahme) ist einer der wichtigsten experimentellen Bauten des russischen Konstruktivismus. Heute ist der Wohnkomplex mit seiner Sonnenterrasse auf dem Dach (rechts oben) und seinen langen Erschließungsgängen in ruinösem Zustand